Orientierung durch Orthodoxe Dogmatische Erläuterung Liturgische

 

 

 

Einführung in die Göttliche Liturgie


der Orthodoxen Kirche

 

Vater Johannes Nothhaas

 

 

Einleitung

Als Fürst Wladimir den für sein Volk angemessenen Glauben suchte, schickte er - so berichtet die Nestorchronik des alten Russland - Gesandte aus, die die Glaubenspraxis bei den Muslimen, den Germanen, in Rom und in Konstantinopel erkunden sollten. Die Berichte über die ersten drei Stationen fielen nicht günstig aus, weil die Gesandtschaft dort jeweils fehlende Andacht oder fehlende Schönheit des Gottesdienstes auszusetzen hatte. Als sie schließlich nach Konstantinopel kamen und dort der Göttlichen Liturgie beiwohnten, hatten sie endlich das gefunden, was sie suchten: „Und wir kamen zu den Griechen und wurden dort hingeführt, wo sie ihrem Gott dienen - und wir wussten nicht, ob wir im Himmel oder auf Erden gewesen sind. Gibt es doch auf Erden nichts dergleichen zu schauen, noch solche Schönheit, und wir vermögen das gar nicht zu erzählen. Wir haben nun erfahren, dass Gott dort unter den Menschen weilt und ihr Gottesdienst steht über dem aller Lande. Nicht vergessen können wir jene Schönheit ..." Drei charakteristische Merkmale für die Liturgie der Orthodoxen Kirche sind in diesem Bericht der russischen Gesandten enthalten, womit sie das Wesen des christlichen Gottesdienstes in Konstantinopel erfasst hatten:

Anbetung

Als die Gesandten auszogen, den wahren Glauben zu finden, fragten sie nicht nach systematischen Aspekten einer Glaubenslehre und zu befolgenden Gesetzen, sondern beobachteten die Völker ganz einfach beim Gebet. Diese Form der Annäherung an die Glaubensinhalte über den liturgischen Vollzug entspricht ganz der orthodoxen Grundhaltung:

Einheit von

- Glaube und Leben
- Dogma und Frömmigkeit
- Mystik und Theologie

Sie hatten intuitiv erfahren, was das Wort Orthodoxie ausdrücken will: „Wahre Anbetung und Verherrlichung Gottes ".
In ihr werden alle Dinge auf Erden in ihrem Bezug zum Himmel gesehen, in ihrer Bestimmung zur göttlichen Verklärung. Vater Georg Florovsky, ein russischer Theologe unseres Jahrhunderts sagt: „Das Christentum ist eine liturgische Religion. Die Kirche ist zuerst eine anbetende Gemeinschaft.“ Für viele westliche Christen ist es eine völlig neue Erfahrung, wenn sie bemerken, wie orthodoxe Christen vermeintlich „liturgische Äußerlichkeiten" mit Akribie beachten. Aber hat man einmal den zentralen Platz des Gottesdienstes, der Anbetung, im Leben der Orthodoxen Kirche erkannt, dann verwundert das nicht mehr. Die Orthodoxie sieht den Menschen vor allem als liturgisches Wesen, der sich selbst am meisten verwirklicht, wenn er Gott verherrlicht. In den dunklen Tagen unter totalitärer Herrschaft war und ist es die Göttliche Liturgie, die die orthodoxen Völker stets mit neuer Hoffnung erfüllt.

Schönheit

„Nicht vergessen können wir jene Schönheit ..." zeugt von der Feinfühligkeit für die Schönheit im Liturgischen. Und da es ein Ziel des Gottesdienstes ist, den Menschen an seine Herkunft als geschaffen nach dem Ebenbild Gottes zu erinnern, ist es nur natürlich mit den Mitteln menschlicher Kunst einen Eindruck von paradiesischer Schönheit entstehen zu lassen. Wahrheit und Schönheit sind ebenso wie Glaube und Leben zwei untrennbare Begriffe.

Transzendenz

„Wir wissen nicht, ob wir im Himmel oder auf Erden gewesen sind." Gottesdienst in der Orthodoxen Kirche führt über Alltag und Umgebung hinaus. Er ist für die Gläubigen nichts anderes als „der Himmel auf der Erde". Die Liturgie umfasst zwei Welten; sie geschieht im Himmel und auf Erden zugleich. Der Altar verlängert sich in die Ewigkeit hinein zum himmlischen Hochzeitsmahl, bei dem wir mit Christus und dem Heer der Engel an der Festtafel teilnehmen. „Wir haben erfahren, dass Gott dort unter den Menschen wohnt."

Das orthodoxe Kirchengebäude

Wie diese Ideale durch Architektur und Malerei ausgedrückt werden, können wir erleben, wenn wir eine orthodoxe Kirche betreten. Wir kommen, nachdem wir die Vorhalle durchschritten haben, in einen großen quadratischen Raum, über dem sich eine Kuppel wölbt - mit dem das Kirchenschiff segnenden Christus in ihrer Mitte. Das Gefühl der Nähe des Gottessohnes wird noch dadurch verstärkt, dass Er - gleichsam in Nahaufnahme - dargestellt wird. Unterhalb zwischen den Kuppelfenstern sehen wir die vier Erzengel: Gabriel, Michael, Raphael und Uriel. In den Zwickeln folgen die vier Evangelisten. Die meist vollständig bemalten Wände tragen Fresken mit Darstellungen der Ereignisse der Heilsgeschichte, vor allem jener durch die Christus das Heil der Welt bewirkte: Angefangen von der Verkündigung an die Gottesmutter bis zu Kreuzigung, Auferstehung, Himmelfahrt und Sendung des Hl. Geistes. Unter diesen Wandikonen folgen dann in unserer Nähe die großen Heiligen der Kirche. Sie fügen sich in unsere Reihen und wir in ihre Reihen ein. Ihre Nähe zeigt an, dass sie wie wir Menschen von Fleisch und Blut waren, und wir in ähnlicher Weise zu Christusträgern werden können wie sie. Die Bedeutung dieser Ausgestaltung des Innenraumes des Gotteshauses können wir bei dem Hl. Maxim dem Bekenner nachlesen: „Der geistigen Schau bietet sich die hl. Kirche Gottes als ein Abbild des gesamten Kosmos dar, der aus sichtbaren und unsichtbaren Wesen besteht." In seiner Deutung des Raumes ist im oberen Teil die himmlische Kirche mit dem Thron des Weltherrschers Christus und den Chören der Engel mit den Erzengeln an ihrer Spitze und im unteren Teil des Raumes die Heilsgeschichte und die Heiligen in der irdischen Kirche dargestellt. Dieses „Bildprogramm" bringt zum Ausdruck, was sich in jeder Liturgie in diesen vier Wänden vollzieht: Die göttliche Ewigkeit erweitert die irdische Enge von Raum und Zeit, Vereinigung von irdischer und himmlischer Kirche wird vollzogen.

In der Horizontalen gliedert sich der Raum in drei Teile: Narthex (Vorhalle), Schiff und Altarheiligtum, das durch die Ikonenwand mit dem Schiff verbunden ist. Wir begegnen hier der Einteilung des Tempels des Alten Bundes in Jerusalem, mit dem Vorhof der Vorbereitung, dem Innenhof, indem die Opfer dargebracht wurden und dem Allerheiligsten mit der Bundeslade. Die Übernahme des Grundschemas des alttestamentarischen Tempels für den Grundriss des gottesdienstlichen Raumes der neutestamentarischen Gemeinde, der Kirche, drückt zweierlei aus:

Die Abgrenzung des Altarraumes weist hin auf die absolute Heiligkeit Gottes, Seine Unfassbarkeit. Die Abgrenzung und Verhüllung des sakramentalen Geschehens durch die Ikonenwand wollen hinweisen auf das Mysterium Gottes in der Menschwerdung Seines Sohnes und in Sein Eingehen in die irdischen Elemente Brot und Wein. Das Wort Mysterium kommt von griechisch „myoo", die Augen verhüllen und bezeichnet die Haltung des Menschen in vorchristlicher Zeit bei der Gegenwart Gottes im Tempel. Das Augenverhüllen ist ein Akt der Ehrfurcht vor dem Heiligen. Es wäre ein tiefes Missverständnis der Ikonenwand, wenn man sie als Trennwand verstünde zwischen Volk und Klerikern. Diese Deutung kann nur aufkommen, wenn man den Sinn für das Mysterium verloren hat. Die drei Türen in der Ikonenwand, sowie die Ikonen selbst haben verbindende Funktion zwischen dem Geschehen auf dem Altar und dem Kirchenvolk im Schiff. Die Ikonen in ihrer Funktion als Fenster zur Ewigkeit zeigen die Gegenwart des erhöhten Herrn, der Gottesmutter, der Engel und Heiligen an. Durch die Türen in der Ikonenwand geschieht der Einzug des Herrn in sein Heiligtum mit seinen Engeln und Heiligen: Das Gebet des Priesters beim Einzug mit dem Evangelienbuch macht dies deutlich: „Gebieter, Herr unser Gott, der Du im Himmel die Ordnungen und Heere der Engel und Erzengel eingesetzt hast zum Dienste Deiner Herrlichkeit, lass mit unserem Eingang heilige Engel einziehen, die mit uns die Liturgie vollziehen und Deine Güte mitverherrlichen." Die Ikonenwand trennt nicht wie der Tempelvorhang des Alten Bundes, im Gegenteil, sie führt hin zu dem Heilsgeschehen am Altar. Für westliche Christen, die den orthodoxen Gottesdienst verstehen wollen, ist es wesentlich ein Gefühl für die zwei unverzichtbaren Funktionen der Ikonenwand zu entwickeln: VERHÜLLEN und OFFENBAREN.

Auffallend ist auch, dass das Kirchenschiff frei von Bänken ist. Der orthodoxe Christ ist es von Jugend auf gewohnt, stehend zu beten. Nur für Alte, Schwache und Kranke stehen an den Wänden Bänke zur Verfügung. Die stehende Teilnahme am Gottesdienst hat vieles für sich:

- Das Stehen ist die angemessenere Haltung als das Sitzen, zum Empfang des Herrn, der in Seine Gemeinde einzieht. Das Stehen ist das Kennzeichen der anbetenden Gemeinde, während das Sitzen Kennzeichen einer passiv konsumierenden Versammlung ist, die sich so z.B. auch einen Vortrag anhören könnte.

- Die engen Kirchenbänke verhindern jede Bewegungsfreiheit zu aktiven Gebetshaltungen, wie Verbeugungen und Metanien ebenso wie den spontanen Ortswechsel des Gläubigen, wenn er sich dem liturgischen Geschehen intensiver zuwenden oder eine Kerze opfern will.

- Das Stehen ist die nüchterne Haltung des Wachenden; das Sitzen verführt zu Kirchenschlaf.

- Auch westliche Kniebänke sind für orthodoxe Christen hinderlich, weil sie wieder nur eine andere statische Form der Gebetshaltung erlauben. Allein die Bänke können aus orthodoxer Sicht schon Zeichen für die Fehlentwicklung sein, die im Westen den Kult fast schon überall zu einer Versammlung reduziert hat. So ist in vielen evangelischen Gemeinden der Predigtgottesdienst zum normalen sonntäglichen Gottesdienst geworden, die Eucharistie wird nur einmal im Monat oder seltener gefeiert. Die Formen des Gottesdienstes machen deutlich, für welche Theologie, für welche Beziehung zu Gott sie stehen.

Noch bevor der Gläubige das Kirchenschiff betritt, durchquert er den Narthex. In diesem Vorraum ist während des Gottesdienstes der Platz der Katechumen, der auf die vollständige Mitfeier des Mysteriums noch nicht Vorbereiteten vor ihrer Taufe und der nicht zur Feier Bereiteten im Stand der Büssenden. Nach altkirchlicher Tradition dient es nicht dem Wohle aller, wenn alle an allem in gleicher Weise teilnehmen. Die Katechumen können nur am Wortteil voll teilnehmen. Vor dem eucharistischen Teil werden sie vom Diakon mit dem Ruf: „Ihr Katechumenen alle, gehet hinaus. Katechumenen gehet hinaus. Keiner der Katechumenen bleibe!" Der Sinn dieser Massnahme, die heute noch in vielen Klöstern - vor allem auf dem Heiligen Berg - praktiziert wird, ist die Bewahrung des Göttlichen Mysteriums in seiner Bedeutung für unser Heil. Ein Nichtvorbereiteter soll es nicht schauen. Der in Brot und Wein anwesende Herr soll nicht in ungläubigen Augen profaniert werden. Der Verweis der Büssenden an diesen Ort soll unterstreichen, dass sie solange sie von ihren Sünden gefangen sind, nicht an der Kommunion des Leibes Christi, der Kirche, teilnehmen können. Die Strenge dieser Praxis war der Kirche nicht zum Schaden gewesen.

Die GÖTTLICHE LITURGIE
(Aufbau und Deutung)


Von dem bisher beschriebenen statischen Äußeren des orthodoxen Kirchenraumes kommt man besonders durch das „Bildprogramm" der Ikonen zur inneren dynamischen Bestimmung dieses Kultraumes. Der Zyklus der Fresken führt uns hin zu den Heilstaten Gottes, die in den zwölf Hochfesten des Kirchenjahres kulminieren. Da der Kirchenraum vor allem der Ort der Liturgie ist, muss man in diesem Zyklus auch eine Deutung dieser Liturgie sehen: Sie sind das gemalte Gedächtnis der Heilstaten Gottes in Seinem Sohn Jesus Christus. Sie sind die Anamnese in Farben - zu der gesprochenen Anamnese der Liturgie, in der der Zelebrant nach den Einsetzungsworten des Herrenmahles folgenden Wortlaut des Gedächtnisses anstimmt: „Eingedenk also dieses erlösenden Gebotes und all dessen, was für uns geschehen ist: des Kreuzes, des Grabes, der Auferstehung am dritten Tag, der Auffahrt in die Himmel, des Sitzens zur Rechten und der zweiten, neuen Ankunft in Herrlichkeit, bringen wir Dir dar das Deine vom Deinigen, gemäß allem und für alles", d. h. die Darbringung von Brot und Wein vor Gott wird verbunden mit dem Gedächtnis des ganzen Heilshandelns in Christo. Damit werden nicht nur die beiden eucharistischen Elemente, sondern das ganze Christusmysterium vor Gott dargebracht. Das ganze Heilswerk Christi wird in der Heiligung der beiden Gaben gegenwärtig gesetzt und in der Kommunion übermittelt. Raum und Zeit stehen still, und wir, die Gläubigen, stehen mit den Hirten und den Magiern vor dem Kind in der Krippe zu Bethlehem.
Wir stehen bei dieser Feststellung unmittelbar vor dem Mysterium des christlichen Gottesdienstes selbst. Unser unsichtbares Herausgehobensein aus Raum und Zeit in der Feier der Göttlichen Liturgie geschieht durch die Gegenwart des Herrn. Seine Gegenwart überbrückt Raum und Zeit, weil Er der Ewige, Raum und Zeit überwunden hat. Deswegen ist auch Sein Kommen in der Liturgie gar nicht zeitlich eingrenzbar. Der ganze Gottesdienst ist Epiphanie des Herrn, d.h. Erscheinung des Herrn. Der Ausdruck Epiphania Domini, d. h. Erscheinung des Herrn, stammt nicht aus der Sphäre der nur persönlichen, innerlichen Frömmigkeit, sondern kommt aus dem Bereich des Öffentlich-Rechtlichen, des Politischen. Epiphanie bezeichnete das Erscheinen des Römischen Kaisers, wenn er auf seinen Reisen durch die Provinzen seines Imperiums eine Stadt besuchte. Das Wort Epiphanie ist gleichbedeutend mit Kaiserbesuch. Wir können uns einen solchen Kaiserbesuch gar nicht pomphaft genug vorstellen. Die Städte erstrahlten in Illumination, die Magistrate und Bürgerschaften erschienen in festlichem Zug mit ihren Huldigungen und Weihegaben, und der Kaiser verlieh Bezeugungen seiner Huld und Gnade, ließ Feste feiern und spendete für Spiel und Mahl und manchmal verlieh er wohl bei diesen Gelegenheiten das römische Bürgerrecht, das der Stadt und ihren Bürgern große Freiheiten und Rechte sicherte. Und so, wie Epiphanie hier die ganze Festzeit des Kaiserbesuches bezeichnete, so gilt dies auch für die Liturgie. Die ganze Liturgie bezeichnet das Kommen des Herrn in all seinen Heilstaten. So deutet schon die Vorbereitung der Gaben von Brot und Wein vor dem offiziellen Beginn der Liturgie hin auf die Geburt des Herrn in Bethlehem. Über dem Teil Brot, über das in der Liturgie die Segensworte gesprochen werden, wird der Stern von Bethlehem in Form eines vierstrahligen Metallbaldachins errichtet, begleitet von den Worten des Zelebranten: „Und der Stern kam und stand oben über dem Ort, wo das Kind war " (Mt 2,9) Die vorbereiteten Elemente Brot und Wein werden dann mit den Tüchern der Velen bedeckt. Der Rüsttisch mit den vorbereiteten Gaben bezeichnet die Zeit der 30 Jahre Jesu im Verborgenen, vor Seiner Taufe und Seinem öffentlichen Auftreten.

Ablauf der Liturgie

Der Ablauf der Liturgie kann in vier Teile gegliedert werden:

Eingangsteil mit:
- Eingangssegen
- Friedensektenie (Ektenie = Fürbitte)
- zwei kleine Fürbittgebete mit jeweils folgenden Psalmgesängen

Wortteil mit:
- Kleinem Einzug mit dem Evangeliar (welches das Kommen Christi in Seiner Verkündigung bezeichnet)
- Lesung der Epistel
- Evangelium
- Predigt

Eucharistischer Teil:
- Cherubimhymnus
- Großer Einzug mit den vorbereiteten Gaben
- Eucharistiegebet:
- Dankgebet
- Einsetzungsworte
- Anamnese
- Herabrufung des Hl. Geistes
- Kommunion: Empfang der Allerheiligsten Gaben

Schlussteil mit:
- Dankgebeten
- Segen

In diesem Aufbau der Liturgie spiegelt sich das Heilswerk Christi:
In der Vorbereitung der Gaben und ihrer Verhüllung sind die Geburt in Bethlehem und die 30 Jahre seines Lebens im Verborgenen angedeutet.
Im Wortteil beschreibt der Kleine Einzug die Ankündigung des Kommens Jesu in seinem Wort. Dieser Einzug hat schon eine kosmologische Dimension, da die himmlischen Heere der Engel mitbeteiligt sind. Dann erhebt der Diakon das Evangelienbuch und ruft:
„Weisheit! Aufrecht!"
„Weisheit" ist die Umschreibung Christi, und der Ruf „Aufrecht" bezieht sich auf die Gläubigen. Das heißt, hier kommt der Herr, lasst uns aufrechter Haltung (an Leib und im Geist) Ihn empfangen. Der Zug der Zelebranten bleibt in der Mitte mit dem vom Diakon erhobenen Evangelienbuch stehen, und der Chor singt zusammen mit der Gemeinde: „Kommt lasst uns anbeten und niederfallen vor Christus, oh Sohn Gottes, auferstanden von den Toten, Alleluja, Alleluja, Alleluja". Durch nichts wird eigentlich deutlicher, wie sehr die Orthodoxe Kirche auch eine Kirche des Wortes ist. Vor der Verwirklichung der Verkündigung des Wortes Gottes in der Lesung von Epistel, Evangelium und Predigt singt der Chor das Dreimal-Heilig, das dem Sanctus aus Jes 6, dem Engelsgesang in der Gotteserscheinung des Propheten entspricht, bevor die Konsekration vollzogen wird.
Der eucharistische Teil verdeutlicht das Kommen Christi im Sakrament des von Ihm eingesetzten Mahls. Die Herabrufung des Hl. Geistes zur Wandlung der Elemente von Brot und Wein in Leib und Blut Christi zeigt an, wie das Heilshandeln Jesu einmündet in das Wirken des Hl. Geistes in der Kirche nach Seiner Himmelfahrt. Die Liturgie endet nach der Kommunion mit Dankgebeten und dem Segen. Besonders kennzeichnend ist das vom Chor gesungene Troparion:

„Wir haben das wahre Licht geschaut,

den himmlischen Geist empfangen,

den wahren Glauben gefunden,

anbetend die unteilbare Dreieinheit,

denn sie hat uns erlöst "


Dieser Gesang preist den dreieinen Gott, der Sein Heilshandeln in der Liturgie den Menschen zuteil werden ließ.

Zwei Linien sind für den Aufbau der Göttlichen Liturgie von Bedeutung:

Die Entfaltung des ganzen göttlichen Heilswerkes durch die Geschichte, die mit der Offenbarung des Vaters beginnt, erneuert wird mit der Menschwerdung im Sohn und sich fortsetzt im Werk des Heiligen Geistes. Dieses Wirken des dreieinen Gottes findet sich im Fortschreiten des Schwerpunktes der Gebete abgebildet. Somit umfasst die Liturgie die ganze Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen.

Das Handeln des dreieinen Gottes in und während der Liturgie macht diese zur „Göttlichen Liturgie". Die Anrufung im Hochgebet richtet sich an den Vater. Die Einsetzungsworte für das Herrenmahl sind ein Teil dieses Dankgebetes, in dem Gott für die Sendung Seines Sohnes gedankt wird, der „in der Nacht, in der er überliefert wurde ", das Mahl des Neuen Bundes eingesetzt hat. Das Hochgebet wird beendet durch die Bitte um Herabkunft des Hl. Geistes. Durch diese Struktur des Hochgebetes wird die altkirchliche Auffassung von der dreieinen Person Gottes verdeutlicht. Auf die Frage, was die Einheit des dreieinen Gottes ausmacht, antwortet die Orthodoxe Kirche gemäß der Tradition der kappadozischen Kirchenväter (Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa, Basilios d. Gr.), dass der Vater die „Ursache" und „Quelle" der Einheit ist. Er ist das Prinzip der Einheit Gottes. In diesem Sinne spricht die orthodoxe Theologie von der „Monarchie" des Vaters. Die anderen beiden Personen der Gottheit können durch ihre Beziehung zu ihm beschrieben werden. Der Vater ist die „Quelle" der Gottheit, von niemandem geboren, aus niemandem hervorgehend. Der Sohn ist aus dem Vater geboren vor aller Ewigkeit. Der Hl. Geist ist vor aller Ewigkeit aus dem Vater hervorgegangen (Joh 15,26). Genau dieses Verhältnis der drei Personen untereinander in der dreieinen Gottheit bringt das Hochgebet der Göttlichen Liturgie zum Ausdruck. Das Heilswerk Jesu Christi und des Hl. Geistes wird im Hochgebet durch die Danksagung (= Eucharistie) mit den Einsetzungsworten und die Bitte um den Hl. Geist gegenwärtiggesetzt. Bei dieser Gegenwärtigsetzung des Heils beachtet das Hochgebet den Ablauf des Heilsgeschehens in seiner chronologischen Abfolge, die theologische Bedeutung hat. Erst wird um das Heilswerk des Vaters, angefangen von der Schöpfung, dann um das Heilswerk des Sohnes, sein Kommen, die Einsetzung des Mahles, die Kreuzigung, das Grab, die Auferstehung, die Himmelfahrt bis hin zu Seiner Wiederkunft (in der Anamnese) und schließlich um das Werk des Hl. Geistes an den Gaben gebetet. Diese Reihenfolge ist deshalb von absolut theologischem Rang, weil sie den Heilsplan Gottes mit der Menschheit nicht nur widerspiegelt, sondern in der Eucharistie ja gegenwärtig setzt. Da kann der Mensch nichts verändern, weil es eine Verkehrung des Heilsgeschehens wäre. Dass das Werk des Hl. Geistes auf das Heilswerk des Sohnes folgt, hat seine analoge Entsprechung auch in der Liturgie. So wie Jesus Mt 16,18 den Petrus und Mt 18,18 alle zwölf Jünger zu Aposteln beruft, sie aber erst durch die pfingstliche Geistesausgießung mit der generellen Vollmacht zur Ausübung des vom Herrn ihnen anvertrauten Amtes ausrüstet, so werden auch in der Eucharistie die Einsetzungsworte wirksam, wenn es um den Hl. Geist gebetet wurde. Denn der Geist ist es, der das Werk Jesu Christi gegenwärtigsetzt. Es wird deutlich, dass die Eucharistie in der orthodoxen Theologie verankert ist im Heilsplan und im Wesen des dreieinen Gottes.

Die Theologie der westlichen Christenheit stimmt hier (unabhängig ob evangelisch oder römisch-katholisch) nicht der Tradition der altkirchlichen Theologie, wie sie die Orthodoxe Kirche bis heute bewahrt hat, zu. Seit der Zeit Karls der Grossen lehrt die römisch-katholische Kirche, dass der Hl. Geist vom Vater und vom Sohne ausgehe. Damit hört der Vater auf, die einzige Quelle der Gottheit zu sein, da jetzt der Sohn auch eine Quelle geworden ist. Nämlich für den Hl. Geist. Da die Einheit der Gottheit nun nicht mehr in der Person des Vaters beruht, begründet sie Rom in der Natur, die alle drei Personen teilen. Kurz gesagt: In der Orthodoxie beruht die Einheit Gottes in der Person des Vaters in der westlichen Theologie in einem abstrakten Begriff, nämlich „Natur". Für die orthodoxe Theologie hat die Person einen höheren Rang als ein Begriff, weil man mit einer Person reden kann, mit einem Begriff nicht.

Die Konsequenz aus dieser Auffassung von dem dreieinen Gott ist, dass der Weg der Offenbarung Gottes in der Geschichte für das Geschehen in der Eucharistie nicht mehr von theologischem Gewicht ist. Es genügt die Einsetzung des Herrenmahles durch Jesus. Die Sendung des Geistes steht mit ihr in keiner notwendigen Beziehung. Die weitere Folgerung ist dann, dass der Hauptakzent der westlichen eucharistischen Theologie auf den Einsetzungsworten ruht, und dass das Mysterium verengt wird auf die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi. Die Gegenwart des ganzen Christusgeschehens wird aus den Augen verloren, und der scholastische Streit um das „Wie" der Wandlung, um das „Das ist mein Leib" oder „Das bedeutet mein Leib" oder „Das bedeutet meinen Leib", ist die Folge dieser Verengung der eucharistischen Theologie. Hinzu kommt noch die zeitliche Fixierung der Wandlung auf einen Punkt. Daraus folgten die Fragen, wann sie geschieht, und wie lange sie dauert. All dies Analysieren ist der Orthodoxie fremd und erscheint ihr unangebracht angesichts der die Grenzen von Raum und Zeit sprengenden Größe des Heilisgechehens in der Liturgie. Daher wird die „Wandlung" nach orthodoxer Auffassung nicht ausschließlich durch die Einsetzungsworte, d. h. durch die zweite Person der Gottheit, bewirkt. Eine ebenso entscheidende Rolle kommt auch der Epiklese, der Herabrufung des Hl. Geistes, zu, dass er Brot und Wein heiligen möge. So wird durch das Handeln aller drei Personen des dreieinen Gottes von Beginn der Liturgie die ganze Heilsökonomie, die ganze Heilsgeschichte Gottes, auf uns unfassbare Weise vergegenwärtigt. Die Gegenwart des Herrn in den gesegneten Elementen ist daher in der Orthodoxen Kirche nicht Gegenstand analytischen Reflexion, sondern anbetender Schau in sakramentalen Mysterium.
Der Unterschied zwischen der orthodoxen und der gesamtwestlichen Auffassung von dem Heilsgeschehen in der Liturgie lässt sich treffend an einem Beispiel aus der Architektur verdeutlichen. Es ist inzwischen eine anerkannte Tatsache, dass der gotische Baustil die Konsequenz aus dem scholastischen Denken ist. Kennzeichnend für den gotischen Stil ist der Spitzbogen. Für den byzantinischen Baustil ist der Rundbogen charakteristisch. Beide architektonischen Grundformen lassen sich als Anschauungsmaterial für die Auffassung von der Eucharistie in den beiden Teilen der Christenheit verwenden: So wie der gotische Bogen auf seine Spitze zustrebt und einen definitiven Höhepunkt hat, so ist auch das westliche Eucharistieverständnis auf einen Höhepunkt, die Wandlung ausgerichtet. Und so wie der byzantinische Rundbogen keinen Höhepunkt, bzw. nur einen im alles Umfassenden verborgenen Höhepunkt hat, so ist auch in der orthodoxen Eucharistieauffassung der Höhepunkt der Annäherung Gottes im Mysterium verborgen. Die ganze Liturgie strebt auf einen verborgenen, eigentlich zeitlosen „Raum" zu, zwischen Einsetzungsworten und der Kommunion, in der Gott uns begegnet, zu, der sogar bis zum Verzehr der übriggebliebenen Reste der Eucharistie durch den Diakon andauert. Gottes Gegenwart bleibt ein unfassbares Mysterium.

Schlussbetrachtung

Wir erleben heutzutage den Anbruch einer Zeit, in der man allmählich davon abkommt, den Bruch mit der Tradition zu verherrlichen. Man wird sich dessen bewusst, dass Traditionslosigkeit bedeutet, kein Vaterhaus zu haben, keine geistigen Väter. Man merkt, die geistige Heimatlosigkeit, den Verlust der eigenen Identität, wenn man nicht weiß, woher man kommt, wohin man gehen soll. Deshalb sucht man heute wieder echte Tradition zu gewinnen und sieht inzwischen nicht mehr auf die Orthodoxe Kirche herab als ein im Mittelalter erstarrtes Gebilde. Man ahnt und erkennt inzwischen, dass das, was dem fortschrittlichen Westeuropa als so reformbedürftig erschien, den unter den Mongolen, Türken und Kommunisten unterdrückten Völkern eine über Jahrhunderte anhaltende unauslöschbare Identität gab. Ja, man entdeckte nicht nur die Schönheit der Sprache und Gesänge der Orthodoxen Kirche, sondern auch die Tiefe ihrer Theologie. Eine Reihe von Theologen erkannte auch zahlreiche Brüche in der Tradition der westlichen Christenheit, die z.B. in der kirchlichen Kunst in stets schnelleren Wechsel sichtbar wurden, von Gotik zu Renaissance zu Barock und Rokoko bis hin zur Moderne. Und heute in unserem Zeitalter, das im Westen im Zeichen der Ökumene steht:

Lassen sich die verlorenen Inhalte dadurch finden, dass man die Gleichwertigkeit aller liturgischen Formen erklärt oder einfach „Ritus" imitiert?
Liegt die spirituelle Verarmung des Westens nicht gerade in der Trennung von Form und Inhalt der Anbetung?
Reicht die intellektuelle Reflexion unserer irdischen Situation - oder suchen die Menschen auch in unserer Zeit in der Religion vor allem die Einbeziehung der ganzen Person in eine tragfähige Verbindung mit Gott, die auch auf „äußere Formen" der Anbetung angewiesen ist?
Liturgisches als Zutat, als Zitat, als Adiaphoron ist nicht nur inhaltslos, schlimmer noch, sie ist kraftlos, verliert die Kraft uns zu unserem Heil hinzuführen.
Die Synthese von Glauben und Anbetung wiederzufinden kann uns weiterhelfen. In der Geschichte können wir die Ursachen und die Entwicklung der Trennung des Leibes Christi kennenlernen.

Zur Einheit zurück führt aber wahrscheinlich nur ein Weg:
Geleitet durch den Hl. Geist wieder die Einheit von verständig angenommenen Glaubensinhalten und den dazugehörigen Formen glaubensentsprechender Anbetung zu leben, wie wir sie an den noch lebendigen Quellen der alten Kirche finden können.

 

Artkel erstellt am: 20-6-2009.

Letzte Überarbeitung am: 20-6-2009.

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